Mit Trauer leben lernen

    • Offizieller Beitrag

    Ein naher Mensch ist gestorben. Alles ist auf einmal anders. Unvorstellbar, dass der geliebte Mensch nicht mehr da ist. Der Partner wird nie wieder etwas sagen. Das Kind wird nie wieder spielen oder singen. Ob es ein Autounfall war, eine schwere Krankheit oder ob jemand im hohen Alter gestorben ist: Der Tod eines nahen Menschen kann uns in ganz besonderer Weise erschüttern.


    Jeder reagiert in so einer Situation anders. Und häufig ist es unwahrscheinlich schwer, mit den vielfältigen Gefühlen und Gedanken umzugehen. Im einen Moment möchte man womöglich nur noch weglaufen, im nächsten ist man wütend auf alles und jeden und dazwischen drehen sich immer wiederkehrende Gedankenspiralen, die zu keinem Ziel zu führen scheinen.


    Will man sich selbst in dieser Situation helfen oder einem nahestehenden Trauernden beistehen, hilft es, zu begreifen, was da überhaupt vor sich geht. Was passiert eigentlich, wenn wir dem Tod begegnen? Wie kommt es zu so ganz unterschiedlichen Reaktionen? Und am wichtigsten vielleicht: Wie kann man mit dieser Erschütterung auf eine gute Weise umgehen?


    Welche Folgen hat der erste Schock?

    Die Reaktionen auf einen Todesfall entstehen in unserem Gehirn. Den Tod eines nahen Menschen zu erleben, ist wie ein massiver unwahrscheinlich starker Schock. Er stört die üblicherweise ablaufenden Prozesse. Bestimmte Hirnregionen sind dabei besonders betroffen: der Hirnstamm und das Kleinhirn, in dem grundlegende Vorgänge wie Essen, Schlafen, Atmen, Kreislauf usw. beeinflusst werden, das limbische System, das die Emotionen und das bewusste Gedächtnis, wie z. B. Zeit, Orientierung regelt.


    Werden diese beiden Hirnareale durch eine schwere Erschütterung, wie den Tod, aus dem Gleichgewicht gebracht, erlebt man meist Folgendes: Man schläft schlecht, hat keinen Appetit, fühlt sich krank. Vergisst Dinge, die man sonst eigentlich weiß. Kann sich schlecht orientieren. Verfährt sich mit dem Auto auch auf völlig gewohnten Wegstrecken. Außerdem wirkt die Erschütterung durch den Tod wie eine Bedrohung. Unser Hirnstamm, das Kleinhirn und das limbische System reagieren darauf, wie sie es seit Urzeiten gewohnt sind. Nämlich mit: Flucht oder Aggression oder Erstarren. Diese Reaktionen können durchaus auch abwechselnd ablaufen.


    Flucht, Aggression, Erstarren – was passiert genau?

    Trauernde erleben die Fluchtreaktion, wenn sie sich rastlos fühlen, es zu Hause kaum aushalten können. Manch einer fährt dann ziellos herum oder geht auf Reisen. Es kann helfen, sich auf diese Weise abzulenken und so aus den grübelnden Gedanken auszusteigen. Oder das Unterwegssein hilft, weil man dann in Bewegung ist und das Gefühl bekommt, irgendetwas zu tun. Auch wenn die Erinnerungen und traurigen Gefühle die ganze Zeit da sind. Es hilft, sich zu bewegen und zu entscheiden, wo die nächste Fahrt oder der nächste Weg hingehen kann.


    Zu aggressiven Reaktionen kommt es z. B., wenn die wohlgemeinte Fürsorge von Freunden oder Bekannten wütend macht. Ohne, dass es dafür einen wirklich vernünftigen Grund gibt. Oder es packt einen die Wut auf den Verstorbenen, weil dieser einen alleine zurücklässt. Aggression kann bei Trauer also eine ganz natürliche und für den Trauernden durchaus hilfreiche Reaktion sein. Sie richtet sich nicht zwangsläufig gegen jemanden persönlich, sondern ist so etwas wie ein urzeitlicher

    Verteidigungsmechanismus gegen die Erschütterung. Mit diesem Wissen kann man sich vielleicht ein kleines bisschen besser verstehen. Und auch Außenstehende können mit möglicher Gereiztheit und Aggression besser umgehen, wenn sie wissen, wie sie entsteht.


    Erstarrung erleben Trauernde, indem es ihnen z. B. schwerfällt, sich zu ganz alltäglichen Dingen wie Waschen, Essen oder Anziehen aufzuraffen. Oder sie erstarren innerlich. Äußerlich scheinen sie zu funktionieren, aber innerlich spüren sie eine große Leere. Phasenweise kann dies helfen, den Verlust zu bewältigen, weil man so eine Pause von den manchmal kaum zu ertragenden Gefühlen bekommt. Die Gedanken kreisen womöglich noch, aber die Gefühle sind wie abgeschnitten.


    Das Gehirn macht sich selbstständig. All diesen Reaktionen ist gemeinsam, dass der trauernde Mensch sich in einem gewissen Sinne hilflos fühlt. Er kann seine Reaktionen kaum bewusst steuern. Das Gehirn macht sich quasi selbstständig. Der Grund hierfür liegt bei einem weiteren Hirnareal, das bei einem erschütternden Todesfall aus dem Gleichgewicht gerät. Neben dem Hirnstamm, dem Kleinhirn und dem limbischen System wird auch ein drittes Areal beeinflusst: der Neokortex. Dort sind unser Denken und Handeln angesiedelt.


    Auch der Neokortex wird gestört, wenn man durch einen Todesfall erschüttert wird. Das hat zur Folge, dass unser Denken und Handeln nicht wie gewohnt funktionieren. Man kann Gefühle und Impulse nicht so gut beeinflussen wie sonst. Und ist den Schockreaktionen dadurch ziemlich hilflos ausgeliefert. Man möchte z. B. gar nicht aggressiv reagieren, schafft es aber nicht, die Wut zurückzuhalten. Oder man würde ja gerne sein Leben wieder im Griff haben, aber auch das gelingt nicht, weil die Erstarrung so stark wirkt.


    Hinzu kommt, dass das Denken sich häufig im Kreis dreht. Trauernde kennen das z. B. als Gedankenspiralen. So überlegt man wieder und wieder die nächsten Schritte. Wie soll das Leben weitergehen? Das Haus verkaufen? Woanders hinziehen? Oder lieber in der gewohnten Umgebung bleiben? Wie soll der Alltag jetzt aussehen? Wie Weihnachten feiern? Geburtstage? Wie den Urlaub verbringen? Die Gedanken drehen sich im Kreis. Entscheidungen können kaum getroffen werden, weil sich alles geändert hat. Oder man kreist um die Vergangenheit. Geht immer wieder in Gedanken seine Erinnerungen durch. Plagt sich womöglich mit Schuldgefühlen, Hätte-ich-doch-Szenarien oder der Frage: Wieso passiert das mir? Wieso musste mein Kind, mein Partner, meine Freundin sterben?


    Was hilft?

    Die Neurowissenschaften können nicht nur erklären, wieso unser Gehirn diese Reaktionen hervorruft. Sondern sie können auch zeigen, dass bestimmte Dinge einem helfen, besser mit der Situation zurechtzukommen. Drei Punkte sind aus neurowissenschaftlicher Sicht besonders hilfreich. Sich selbst gegenüber verständnisvoll zu sein Verständnis von anderen zu bekommen Symbole, Rituale und persönlich Bedeutsames bewusst einzusetzen


    Wieso ist das so?

    Verständnis: Das Gehirn hilft mit Dopamin und Serotonin

    Mit dem Wissen darüber, was in Hirnstamm, im Kleinhirn, im limbischem System und im Neokortex abläuft, kann man sich selbst als Trauernder ein wenig besser verstehen. Man fühlt sich zwar immer noch hilflos und ausgeliefert, verurteilt sich aber weniger für die eigenen Reaktionen. Auch Freunde und Bekannte verstehen mit diesem Hintergrundwissen besser, was in trauernden Menschen vor sich geht. Und können so eine größere Unterstützung sein.


    Dieses Verständnis ist sehr wichtig und hilfreich. Weil nämlich unser Gehirn bestimmte Botenstoffe verstärkt produziert, wenn man sich selbst Verständnis entgegenbringt: Dopamin und Serotonin sorgen dafür, dass man wieder etwas Antrieb hat und sich wohler fühlt. Diese Stoffe werden verstärkt ausgeschüttet, wenn man sich selbst freundlich begegnet und nicht für sein Verhalten verurteilt. Dazu kann auch Akzeptanz und Verständnis durch andere beitragen. Akzeptiert das Umfeld auch ungewöhnliches Verhalten, z. B., dass man sich eine Zeit zurückzieht, schnell gereizt ist und kein Interesse am „normalen“ Leben hat, dann fühlt man sich mit seinen Trauerreaktionen angenommen. Und auch das kann zu einer Verstärkung der Dopamin- und Serotonin-Ausschüttung führen.


    Trauern Sie selbst um einen anderen Menschen, versuchen Sie also möglichst viel Verständnis für sich selbst zu haben. Verständnis für sich selbst zu haben, bedeutet, dass Sie mit sich auf eine gute Weise umgehen und freundlich und liebevoll zu sich selbst sind. Genau das fällt vielen Menschen oft nicht so leicht. Häufig verurteilen sich Trauernde für ihre Verzweiflung, den Schmerz oder andere Gefühle. Sie meinen dann z. B., man müsste doch besser zurechtkommen. Wie kann es also gehen, sich selbst gegenüber freundlich zu sein? Vor allem, wenn man bislang nicht besonders gut darin war, mit sich selbst verständnisvoll umzugehen?


    Ein ganz wichtiger Schritt ist Annahme. Das, was ist, so anzunehmen, wie es nun mal ist. Und damit meine ich jetzt nicht den Tod des anderen Menschen. Sondern alles, was in einem selbst ist – die eigenen Gedanken, Gefühle und das Verhalten –, zu akzeptieren. Eine Möglichkeit, um freundlich mit sich selbst umzugehen, besteht darin, sich immer mal zwischendurch zu fragen:


    Was fühle ich gerade jetzt? Was denke ich gerade jetzt? Was möchte ich gerade jetzt tun?


    Und die Antworten auf diese Fragen stehen zu lassen. Ihnen kein „Ja, aber“ hinterherzuschicken. Sondern die Gefühle und Gedanken zuzulassen. Zumindest für eine kleine Weile. Den Schmerz zu spüren, die Verzweiflung oder auch die Hoffnung, dass es dem geliebten Menschen nun besser geht. Das, was man tun möchte, möglichst auch wirklich zu tun. An einen schönen Ort zu fahren, sich ein Musikstück anzuhören, vielleicht Fotos von dem geliebten Menschen anzuschauen. Oder etwas ganz anderes zu machen. Eben genau das, wonach einem ist. Auch wenn es etwas Ungewöhnliches ist.


    Auch Verständnis von anderen verstärkt Dopamin und Serotonin Auch Außenstehenden fällt es nicht immer leicht, Verständnis für die Reaktionen oder das Verhalten von trauernden Freunden oder Bekannten zu haben. Sie machen sich Sorgen oder ärgern sich womöglich, dass der Trauernde sich zurückzieht, gereizt ist oder sich einfach nicht erwartungsgemäß verhält. Da sind diese Fragen ebenfalls eine gute Möglichkeit, ihr Verständnis zu zeigen.


    Vielleicht zu fragen: Was denkst Du gerade?

    Oder zu fragen: Was möchtest Du jetzt am liebsten machen?


    Richtig hilfreich wird man jedoch nur durch die passende Reaktion. Und die besteht in der Regel darin, nicht besonders viel zu tun. Sondern einfach zuzuhören. Stehen zu lassen, was der andere erzählt. Kein „ja, aber“ oder „meinst du nicht, dass es besser wäre, wenn du …“ an den anderen zu richten. Wenn der andere etwas unternehmen möchte, vielleicht seine Begleitung anzubieten. Mit zum Friedhof zu fahren, einen Spaziergang zu machen, gemeinsam Fotos anzuschauen. Dieses Verständnis kann es Trauernden enorm erleichtern, mit dem Tod zurechtzukommen.


    Symbole, Rituale und persönlich Bedeutsames bewusst einsetzen Neben Verständnis gegenüber sich selbst und durch andere sind Symbole und Rituale enorm hilfreich, um mit dem Tod eines nahen Menschen zurechtzukommen. Die Neurowissenschaften können erklären, wieso das so ist. Im Neokortex ist nämlich noch ein weiterer sehr wichtiger Bereich angesiedelt. Und zwar der orbitofrontale Kortex. Dieses Areal kann zu einer echten Hilfe werden. Dort ist das verankert, was wir schon sehr früh erfahren und gelernt haben. Zum Beispiel, dass Musik Wohlbefinden erzeugen kann. Oder, dass die Natur, z. B. der Wald, eine beruhigende Wirkung hat.


    Alles, was für uns von früher Kindheit an zutiefst bedeutsam ist, kann sich in diesem orbitofrontalen Kortex verankern. Diese tiefen Erfahrungsspuren sind durch Worte kaum fassbar. Es sind vielmehr tiefe Gefühle oder Gewissheiten, die sich durch Symbole ausdrücken. Diese können sehr hilfreich für einen trauernden Menschen sein. Wenn wir angesichts eines Regenbogens Hoffnung verspüren, kann das mit diesem Hirnareal zusammenhängen. Wenn wir ganz tief zu wissen meinen, dass der Verstorbene uns dennoch nahe ist, kann auch das mit dem orbitofrontalen Kortex zusammenhängen. Symbole und auch Rituale sprechen unsere tiefsten Erfahrungsspuren an. Deswegen können sie uns in der Trauer besonders berühren, beruhigen und auch trösten.


    Wie konkret solche Symbole und Rituale helfen können, kann sehr unterschiedlich sein. Das können traditionelle Formen, wie z. B. der Besuch am Grab, Gedenkfeiern oder auch das Aufstellen von Fotos sein. Aber auch im Alltag lassen sich Symbole finden, die eine tröstliche und beruhigende Wirkung haben. So z. B., wenn man Dinge benutzt, die der Verstorbene einem geschenkt hat. Oder wenn man sich ganz unvermittelt an gemeinsame Erlebnisse erinnert.


    Falls Sie selbst in der Situation sind, suchen Sie sich vielleicht bewusst einen Gegenstand, den Sie mit dem Verstorbenen verbinden. Stellen Sie ein Foto auf oder erinnern Sie sich an schöne gemeinsame Erinnerungen. Vielleicht schaffen Sie auch ein eigenes Ritual, mit dem Sie sich regelmäßig bewusst mit dem verstorbenen Menschen verbunden fühlen können. Zum Beispiel sprechen Sie abends oder morgens kurz mit Ihrem geliebten Menschen. Sagen Sie, was Sie bewegt, und fragen Sie sich, was der andere sagen würde. Oder Sie gehen ganz bewusst an Orte, die Sie gemeinsam besucht haben.


    So schaffen Sie Momente, in denen Sie sich mit dem verstorbenen Menschen verbunden fühlen. Das ist oft zugleich schmerzhaft und auch tröstlich. Einerseits fühlt man sich dem anderen nahe, andererseits erlebt man genau dann auch, wie unzulänglich diese Nähe ist. Der andere ist ja nicht mehr da. Versteht man sich selbst mit diesen vielen verwirrenden Gedanken und Gefühlen, hilft einem das Gehirn, den Verlust besser auszuhalten.


    Wenn Sie einen nahen Menschen verloren haben, seien Sie also gut zu sich, gleichgültig, was Sie fühlen und denken. Egal, was Sie am liebsten tun möchten. Achten Sie auf sich und versuchen Sie sich mit Menschen zu umgeben, die Verständnis für Sie haben. Erinnern Sie sich an Symbole, die Ihnen helfen. Und schaffen Sie sich Rituale, durch die Sie sich mit Ihrem geliebten Menschen verbunden fühlen. Dadurch wird es nicht leicht oder weniger schmerzhaft, mit dem Verlust zurechtzukommen. Aber so können Sie Schritt für Schritt ein kleines bisschen besser aushalten, was eigentlich unerträglich zu sein scheint. Quellen: Onnasch, K./Gast, U. (2012). Trauern mit Leib und Seele. Orientierung bei schmerzlichen Verlusten. Stuttgart: Kle

    "Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Störungen, sondern die Fähigkeit, mit ihnen umzugehen." (Marianne Fuchs)