Psychologie der Gaffer

Wenn Verletzte blutend am Straßenrand liegen, sind sie nicht weit: die Gaffer. Stehen im Weg, glotzen, behindern die Helfer. Warum verhalten sich Menschen so? Die Traumatherapeutin Astrid von Friesen sieht einen primitiven, sadistischen Neid aus frühester Kindheit am Werk.


Der Duden hilft: Das Wort "Gaffen" meint ein mit dümmlichem Gesichtsausdruck verknüpftes sensationslüsternes Anstarren.


Wenn das nur alles wäre. Da wird das Sterben eines kleinen Mädchens bei einem Verkehrsunfall gefilmt, ins Netz gestellt, die Eltern werden damit geschockt, Rettungs- und Katastrophenhelfer werden tätlich angegriffen. 23 Prozent aller Ärzte haben bereits – in der Ausübung ihres Dienstes – schwerwiegende Gewalt erlitten. Und Polizisten von allem noch viel mehr. Gaffer blockieren die Einsatzfahrzeuge, die Feuerwehrleute, sie machen Randale, wenn die freie Sicht ihnen verwehrt wird. Weswegen 2016 eigens ein "Gaffer-Gesetz" auf den Weg gebracht wurde. Ethnologen erklären das Gaffen folgendermaßen: Wir sind einfach froh, wenn das Unglück die anderen und nicht uns selbst getroffen hat. Wie beim Kolosseum-Spektakel, als die Ketzer von wilden Tieren zerrissen wurden. Und wie bei öffentlichen Hinrichtungen, im Mittelalter bei uns, mancherorts noch heute, zelebriert zur Abschreckung, auch zur Selbstvergewisserung, dass wir selbst moralisch integer über die Bösen, die Anderen triumphieren.


Ein primitiver Neid aus frühester Kindheit

Psychoanalytisch interpretiert: Es ist die Abwehr der eigenen Todesängste, sich zu vergewissern, dass dieser Kelch des Unglücks an uns vorüber gegangen ist. Woher kommt die sich steigernde Respektlosigkeit vor den "Guten", den Helfern? Es ist ein mörderischer Neid auf diejenigen, die Gutes zu tun in der Lage sind – wenn man selbst diese Fähigkeit nicht besitzt. Und auf diejenigen, denen diese Hilfe zuteil wird. Ein primitiver, sadistischer Neid aus frühster, schrecklichster Kindheit. Es ist wie bei den Reality-Shows, bei denen es um Scham und Beschämung, Erniedrigung und Entwürdigung geht.


Brechen wir es pädagogisch-therapeutisch herunter: Empathie und Respekt lernt man in frühester Kindheit, wenn die Eltern auf die Bedürfnisse der Kleinsten und Schwächsten eingehen. Sind sie dazu nicht in der Lage oder werden zunehmend durch eigenen Medienkonsum abgelenkt, kann sich dieses tiefe menschliche Gefühl nur unzureichend entwickeln. Weswegen eine lebenslange Wut wächst: Wut zu kurz gekommen zu sein, Wut auf Helfer und Autoritätspersonen wie die Polizei, die als Stellvertreter der eigenen Eltern wahrgenommen werden und nun anderen Menschen helfen und versuchen, das Recht durchzusetzen.


Selfies ersetzen den liebevollen Blick der Eltern

Aggressive Gaffer sind weder erwachsen noch reif. Sie agieren wie wütende Trotzkinder oder hormongesteuerte Pubertierende mit "dümmlichem Anstarren" und irrationalen Attacken auf der Ebene sofortiger Triebbefriedigung, Schadenfreude und neidischer Gehässigkeit, wenn sie Rettungsfahrzeuge behindern und Helfer angreifen. Hinzu kommt die narzisstische Sucht nach Berühmtheit, wenn sich Menschen in Berlin vor einem brennenden Haus mit sechs Verletzten und einer Toten lachend fotografieren. Auch dies aufgrund eines schmerzhaften Mangels. Der fehlende liebevolle Blick der Eltern wird ersetzt durch Selfies, durch die Follower, die kurzfristige Medienpräsenz. Dem Duden sei ein Synonym für den "Gaffer" vorgeschlagen: der "Gefühls-Analphabet". Er sagt: "Hallo, super, ich war dabei als es Tote gab!" (Quelle: Deutschlandfunk Kultur| Astrid v. Friesen)